Meinung: Gewinn trotz Niederlage: Alles Merkel – oder was? (Video)

Trier · Nach Sonntag ist Jamaika erste Wahl.

Die Volksparteien stürzen dramatisch ab - und doch ist eines nach Sonntag eigentlich sicher: Angela Merkel bleibt Kanzlerin. Die Union verliert etwa acht Prozentpunkte und bleibt dennoch führende Partei in Deutschland. Ihr Kapital ist vor allem, dass gegen sie, gegen Merkel keine Regierung möglich ist. Nun stehen der Kanzlerin ihre größten Aufgaben bevor: Zum einen kann sie nach der Absage der SPD nur auf die Zusammenarbeit mit FDP und Grünen setzen. Die schickten zwar bereits freundliche Töne - dennoch gibt es große Unterschiede zwischen CSU und Grünen. Alleine das Wort Obergrenze wird für Verstimmungen sorgen. Zum anderen muss Merkel einen Nachfolger aufbauen - nach Jahren, in denen sie politische Rivalen kleinhielt, teils kühl abservierte.

Großer Verlierer ist die SPD - gerade einmal knapp über 20 Prozent sind für die Volkspartei ein blamables Ergebnis. Der Wechsel von Gabriel zu Schulz blieb ohne Wirkung. Letzterer ist nur noch Parteichef auf Abruf. Andrea Nahles soll Fraktionschefin werden - es spricht vieles für sie als neue starke Frau der SPD. Sie steht für die Erfolge in der Koalition. Sie setzte mit dem Mindestlohn und der Rente mit 63 Akzente in ihrem Ressort. Schulz dagegen kam mit dem Thema soziale Gerechtigkeit nicht an. Analysen zeigen, warum: Für die meisten Wähler war die Arbeitsmarktlage kein Thema, die wirtschaftliche Lage schätzen sie in der Mehrheit als gut ein. Zu viele fragten sich, warum eine Partei nach Jahren in der Regierung plötzlich alles anders machen sollte. Und zu viele wollten wohl - das zeigen die Ergebnisse von Union und SPD - schlichtweg keine große Koalition mehr.

Diese Anti-Stimmung, gegen die Groko, gegen Merkel, gegen Schulz, nutzte die AfD fulminant aus. Sie ist größte der kleinen Parteien, zieht mit mehr als 13 Prozent in den Bundestag ein. Ist das eine Gefahr für unsere Demokratie? Vor allem ist es ein Zeichen, dass der Wahlkampf mit Provokationen, mit Schmähungen, mit der Konzentration auf das Thema Flüchtlinge und Innere Sicherheit erfolgreich war. Die Alternative für Deutschland zog Protestwähler an, sie brachte aber zudem zahlreiche Wähler zurück an die Urne. Die AfD hat Konservativen ein Angebot gemacht. Ob sie wirklich eine Alternative wird? Das werden die AfD-Vertreter im Bundestag beweisen müssen.

Die Risse in der Partei überdeckt nun der Wahlerfolg. Doch es ist abzusehen: Der Rechtsaußen-Flügel und die gemäßigteren Konservativen werden sich in die Haare geraten. Und dann erst wird klar, ob die Aussage des Parteichefs Jörg Meuthen von der bürgerlich-konservativen Opposition wahr werden wird oder ob es eine Fraktion der Pöbler und Streiter im Bundestag geben wird. Die ersten Sprüche von Alexander Gauland, der Merkel "jagen" und "unser Land und unser Volk zurückholen will", zeigen zumindest, in welche Richtung der Spitzenkandidat die AfD führen will. Meuthen sagt zu Recht, dass seine Partei ein Gewinner des Sonntags ist. Dass die AfD die Wahl allerdings gewonnen hat, wie er ebenfalls vollmundig behauptete, ist bei knapp über 13 Prozent fernab der Realität.

Gewinner sind ganz sicher ebenfalls zwei andere Parteien: Die FDP, die fulminant zurückkehrt, und die Grünen, die ein Ergebnis feiern, an das sie selbst kaum mehr glaubten. Kann Christian Lindner mit anderen regieren? Können Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt mit Horst Seehofer zusammenarbeiten? Das werden nicht nur die nächsten Wochen, sondern wohl die nächsten Jahre zeigen.

Die Wahl löst ein politisches Erdbeben aus. Jamaika auf Bundesebene, die SPD muss sich in der Opposition zusätzlich mit AfD und starken Linken duellieren. Nahles und Schulz mit Meuthen, Gauland und Sahra Wagenknecht im Kampf gegen die vielleicht bunteste Koalition aller Zeiten. Die Parteienlandschaft hat sich verschoben - und das Ende ist nicht abzusehen.

Und doch gab es bei dieser Wahl einmalige Umstände. Seit Monaten war klar: Wer gegen Merkel ist, konnte nur AfD oder Linke wählen. Zu schwach war die SPD, zu offen waren FDP und Grüne für eine Zusammenarbeit mit der Union. Sieben Parteien und in allen denkbaren Koalitonen eine Kanzlerin Merkel - das stand schon vor der Wahl praktisch fest. Dies lähmte den Wahlkampf und die Volksparteien.
t.roth@volksfreund.de

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