Demut und menschliche Reife

Von dem Philosophen Sokrates wird folgendes berichtet: So soll er bei einem Spaziergang über den Marktplatz von Athen angesichts der Fülle des Warenangebots gesagt haben: "Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf!" Typisch Sokrates, denkt man da vielleicht beim ersten Hinhören schmunzelnd. Mag sein, denkt da ein Mensch, dass es zu Sokrates’ Eitelkeit passt, sich als bedürfnislosen Menschen zu präsentieren.

Nicht wenige werden dieser Aussage zustimmen. Spürt man aber tiefer hinein, wird man Sokrates vielleicht beneiden, weil man selbst um seine Schwächen weiß. Ohne als Asket dastehen zu wollen, kann festgestellt werden, dass Sokrates Recht hat — gerade in unserer Zeit, gerade in unserer Wohlstandsgesellschaft. Unsere Volkswirtschaft würde zusammenbrechen, würden jeder Kunde und jeder potenzielle Konsument lediglich das kaufen, was unbedingt zum Lebensnotwendigen gehört. Ein Zeichen für einen ungebremsten Konsum?
200 Jahre vor Sokrates lebte der chinesische Philosoph Laotse. Der stellte, so wird überliefert, fest: "Wenn du erkennst, dass es dir an nichts fehlt, gehört dir die ganze Welt." Laotses Gedanke ist im Vergleich zu Sokrates der weiterführende. Sokrates bleibt ganz bei sich, während Laotse seinen Gedanken auf die Welt hin ausdehnt. Das heißt: Jeder kann daran teilhaben, jeder darf sich einreihen und sich und die Welt gestaltend erleben. Ein guter Gedanke. Wir sind einerseits eingeladen, in uns selbst hinein zu hören und zu bedenken, was nur äußerlich wichtig erscheint, nicht aber für das Leben in seiner Komplexität. Andererseits zeigt Laotse, dass ein Sprung nötig ist hin zu einer ethischen Handlungsweise. Da ist das Wissen gefragt, dass es außer Dingen, die man besitzen kann, noch mehr gibt. Was das sein kann, muss jeder selbst entscheiden. Erforderlich ist dazu eine menschliche Reife. Und die erreicht man durch Demut, innere
Einkehr und Weltoffenheit.

Dr. Harald Müller-Baußmann, Diakon in Morbach

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