Abgründe von Liebe und Tod

Für ihren Geliebten setzt eine Mittvierzigerin alles aufs Spiel. Und muss sich mit Schmerz und Verlust, unerfüllten Sehnsüchten und Träumen auseinandersetzen.

Was wären wir ohne die Geschichten, die wir uns und unseren Mitmenschen, den Ehepartnern, Freunden, Kindern, Tanten und Onkeln täglich neu servieren? Im Erzählen kommen wir, gerade nach einem erlittenen Verlust, zu uns selbst, finden den Halt, der in einer sich rasend wandelnden Welt sonst kaum noch zu haben ist.
Diese Einsicht ist die Grundlage von Brigitte Kronauers neuem Roman "Der Scheik von Aachen". Nach ihrem großen Gegenwarts-Panorama "Gewäsch und Gewimmel" (2013) erkundet die seit vielen Jahren in Hamburg lebende Büchner-Preisträgerin erneut die Abgründe von Liebe und Tod. Die 1940 geborene Autorin legt aber kein betuliches Alterswerk vor, sondern lotet mit Emphase und großer sprachlicher Kraft existientielle Erfahrungen aus.
Das Göttliche steht wieder ganz nah neben dem Profanen, der mythische Sänger Orpheus gleich neben Schlagerstar Udo Jürgens, und unsere schnelle Smartphone-Gegenwart wird gespiegelt in romantischen Motiven sehnsuchtsvoller Ferne. Der eigentümliche Romantitel spielt auf Wilhelm Hauffs Märchensammlung "Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven" (1826) an. Und Aachen als Grenzstadt markiert auch den Übergang zwischen verschiedenen Sphären.
Kronauers Protagonistin Anita Jannemann ist allerdings keine weltferne Träumerin, sondern eine interdisziplinär ausgerichtete Akademikerin, eine "Brückenbauerin", die wegen der Liebe zu dem Bergsteiger Mario von Zürich zurück in ihre Heimatstadt Aachen zieht. Dort wohnt auch Anitas verwitwete Tante Emmi nebst ihrer polnischen Haushaltshilfe Frau Bartosz in einem riesigen Bungalow. An den Samstagnachmittagen besucht Anita regelmäßig die Tante mit den "jadegrünen Augen". Es wird getratscht, gejammert und gelästert, meistens kommt Sherry dazu, und die Bartosz bringt ihre eigenen osteuropäischen Erfahrungen in diese sehr westdeutsche, schrullig-komische Familienkonstellation mit ein. Die scheinbare Idylle zerbricht jäh, als Anitas Freund Mario beim Bergsteigen im Kaukasus tödlich verunglückt.
Johannes von der Gathen (dpa)
Brigitte Kronauer, Der Scheik von Aachen, Klett-Cotta Verlag Stuttgart, 399 S., 22,95 Euro.

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