Die First Lady des Jazz

New York · Eigentlich hatte sie tanzen wollen bei der "Wednesday-Amateur- Show" im Apollo Theater in New York. Beim Anblick des Publikums allerdings wurden ihr die Knie weich, und sie stammelte: "Ich möchte lieber singen." Genau das hat Ella Fitzgerald seit jenem Januarmittwoch 1934 bis zum Ende ihres Lebens getan. Heute wäre sie 100 Jahre alt geworden.

New York "Gott gab mir eine Stimme, um die Menschen glücklich zu machen." Und was für eine Stimme er ihr gegeben hat! Etwa drei Oktaven umfasst sie - welcher Opernsänger kann das schon von sich behaupten? Mühelos kann sie die Register wechseln, innerhalb von Sekundenbruchteilen, und dabei trifft sie selbstverständlich haargenau den Ton, den sie angepeilt hat. "Dirty singing", das Anschleifen der Töne, ist bei ihr wohlkalkuliertes Gestaltungsmittel, niemals Nachlässigkeit. Wohltimbrierte Vorschlagnoten schmücken die Songs, lässig "umsingt" sie den Ton, den der Komponist vorgesehen hat. Das alles summiert sich zu ihrem ganz spezifischen Sound - dem von Ella Fitzgerald. In den Höhen voller kindlich-schalkhafter Naivität, eine einschmeichelnde Klangfarbe in der Mittellage, ein samtiger "Bass", mit dem sie etwa ihren Kollegen Louis Armstrong parodiert. "Ich wollte wie ein ,horn' klingen, als ich mit dem Singen begann", erklärte sie das selbstgesteckte Ziel. Sie hat es erreicht; mehr noch: Sie ist weit darüber hinausgeflogen. Von der Tuba bis zum Sopransaxophon kann sie (fast) alles imitieren. Ihre Stimme ist auch perfektes Mimikry. Dazu kommt eine rhythmische Präzision, die jedes Metronom in seine taktischen Schranken weist. Ihre metrische Sicherheit fällt besonders in jenen Passagen auf, wo sie aus dem vorgegebenen Takt steigt und ihrem eigenen Rhythmus folgt. Treffsicher setzt sie ihren individuellen "beat", balanciert mit atemberaubender (Selbst-)Sicherheit durchs Gerüst eines Songs, eilt dem Takt um Millisekunden voraus oder verschleppt ihn für Augenblicke. "Lady Time" hat sie einer ihrer Bewunderer genannt: der Saxophonist Lester Young. Andere Adelsprädikate, die sie in ihrer fast sechzigjährigen Karriere angesammelt hat: "First Lady of Jazz", "First Lady of Song", "Queen of Jazz" ...
Vor 100 Jahren, am 25. April 1917 (nach anderen Quellen erst ein Jahr später), wurde sie in Newport News (Virginia) geboren, vor gut 80 Jahren begann sie in der Band des Schlagzeugers Chick Webb, der ihr erster Mentor wurde, in Harlem ihre Karriere. Von da an begann der unermüdliche und unaufhaltsame Aufstieg auf den Jazzolymp, in dessen dünner Höhenluft sie zu Lebzeiten (und auch heute noch) zu den Erfolgreichen mit Ewigkeitsanspruch gehört.
Der beständige Erfolg, der im an Entwicklungen reichen Jazz einmalig ist, liegt natürlich auch daran, dass die Künstlerin von Anfang an kaum Experimente gewagt hat: Sie ist ein Leben lang im Mainstream des Jazz geblieben, dort, wo sie sich am wohlsten fühlte. Ihre Wurzeln liegen im Swing, und dem ist sie treu geblieben, abgesehen von einigen Stippvisiten beim Bebop der 1940er, wo sie als "Scat"-Sängerin brillierte, und dem Cool Jazz der 1950er Jahre. Unter diesen Voraussetzungen war es ihr auch möglich, eines der größten Projekte in der amerikanischen Unterhaltungsmusik in Angriff zu nehmen: die "Songbook"-Serie, enzyklopädische Alben, die einem (zumeist Broadway-)Komponisten gewidmet waren. Die Idee dazu hatte der Manager Norman Granz, der 1944 die "Jazz at the Philharmonic"-Reihe ins Leben gerufen hatte und diesem - bis dahin weitgehend auf Clubs und kleineren Veranstaltungsräumen beschränkten - Genre sozusagen die "gute Stube", also die großen Konzertsäle, öffnete. Ella Fitzgerald gehörte seit 1948 zum Star-Portfolio des Impresarios. Der hatte dafür gesorgt, dass sie ihr Repertoire, in dem sich in den 1940er Jahren auch viele belanglose Schlager fanden, endgültig "veredelte". Ein erster Schritt war 1956 das "Cole-Porter-Songbook"; die Reihe wurde 1981 mit dem neunten Songbook, das dem brasilianischen Komponisten Antonio-Carlos Jobim gewidmet war, abgeschlossen.
Dass ihre Fans sie lieb(t)en und verehr(t)en, ist wenig verwunderlich. Dass sie die gleiche Zuneigung und Anerkennung auch von Kollegen erhielt, schon eher. Keiner, der im Haifischbecken der populären Musik mitschwimmt, hat zeitlebens etwas Negatives über sie zu sagen gewusst. "Wenn ich darüber nachdenke, wie ich sie beschreiben kann, so fällt mir als erstes Wort ,Aufrichtigkeit' ein", sagte ihr langjähriger Begleiter, der Pianist Jimmy Rowles. Und der Produzent John Hammond fasste sein Urteil über Ella Fitzgerald in einem Satz zusammen: "Sie gehörte nicht nur zu den größten, sondern auch zu den anständigsten Menschen in diesem Geschäft."
Am 15. Juni 1996 ist sie in Beverly Hills gestorben. Sie wurde 79 Jahre alt.
Extra: 100 MAL ELLA


"Ella 100" - der Titel ist nicht nur ein Hinweis auf ihren runden Geburtstag, sondern bezieht sich auch auf die 100 Songs, die die Plattenfirma Verve auf vier CDs veröffentlicht hat. Hier sind einige der besten Aufnahmen versammelt, die zwischen 1936 und 1966 entstanden sind. Es beginnt mit unbekümmerten Swingnummern, die sie, unterstützt von ihrem ersten Förderer Chick Webb, mit dessen Band aufgenommen hat (dazu gehört ihr erster Millionenseller "A-Tisket, A-Tasket") bis zu den großen Balladen aus den Songbook-Alben von George Gershwin, Irving Berlin oder Rodgers & Hart. Und einer der witzigsten Mitschnitte ihrer Karriere ist ebenfalls zu hören: Bei "Mack the Knife", 1960 in Berlin gesungen, verliert sie - eher untypisch - in der zweiten Strophe den Faden und improvisiert sich auf geniale Weise den Rest des Songs - mit Unsinns-zeilen (streng gereimt!) und einem Scat-Impromptu zu Ehren von Louis Armstrong. Einfach genial! Ella Fitzgerald: 100 Songs for a Centennial, Verve LC 01846, über Universal Music.

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