Hoffen auf eine weiche Landung

Brüssel/London · 360 Tage sind nach der Entscheidung der Briten für den EU-Austritt vergangen, bevor erstmals über die Bedingungen geredet wird. 649 Tage bleiben noch bis zum Brexit. Endet er in Chaos?

 Symbol für die erhoffte „weiche Landung“ beim Brexit: Ein Schauspieler, verkleidet als britische Königin Elizabeth II. , schwebt im Juli 2012 bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in London an einem Fallschirm ein. Foto: dpa

Symbol für die erhoffte „weiche Landung“ beim Brexit: Ein Schauspieler, verkleidet als britische Königin Elizabeth II. , schwebt im Juli 2012 bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in London an einem Fallschirm ein. Foto: dpa

Foto: Christian Charisius (dpa)

Brüssel/London (dpa) Brexit-Minister David Davis kommt am Montag nach Brüssel, ins Berlaymont-Gebäude der EU-Kommission - in die Höhle des Löwen oder vielmehr, so dürfte es Davis sehen, in die Hölle der Bürokraten, die die britische Regierung so gerne hinter sich lassen will. Es ist der Beginn einer Reise auf unbekanntes Territorium. Erstmals will ein Mitglied die Europäische Union verlassen. Bis Ende März 2019 soll alles geregelt sein. Doch kein Mensch weiß, wie.
Die EU vermittelt zumindest den Eindruck eines Plans. Davis wird heute zur ersten Verhandlungsrunde erwartet - von Chefunterhändler Michel Barnier und einem dicken Aktenstapel. Die oft geschmähte Brüsseler Bürokratie ist zu Höchstform aufgelaufen. Akribisch hat sie Forderungen aufgeschrieben, in Punkten und Unterpunkten durchdekliniert. Im Netz kann jeder sie studieren.
Davis hingegen kommt als Emissär einer geschwächten Regierung, die nach einer bitteren Wahlschlappe um eine neue Mehrheit ringt. Kurz bevor es nun ernst wird mit dem Brexit, rumort in London noch einmal die Grundsatzdebatte. Geht es nicht doch ein bisschen weicher mit der Trennung? Muss man nicht erst mal in einer Kommission die Verhandlungslinie klarziehen? Gilt es nicht vor allem, Arbeitsplätze und wirtschaftliche Interessen zu wahren, wie es Finanzminister Philip Hammond noch am Freitag formulierte? Was also will Großbritannien beim Brexit? Das Bild ist reichlich nebulös.
Vor einem Jahr, nach ihrem für alle überraschenden Sieg beim britischen Referendum vom 23. Juni 2016, jubelten die Brexiteers über das baldige Ende der Brüsseler Bevormundung. Dann passierte lange nichts. Die EU zog sich tief getroffen zurück und sinnierte über ihre Zukunft oder gar ihren befürchteten Untergang angesichts triumphierender Populisten allerorten.
Die britische Regierung unter der damals neuen Premierministerin Theresa May versuchte derweil, erst einmal zu ermessen, was der EU-Austritt bedeutet. May ließ viel Zeit für Spekulationen. Erst Mitte Januar machte die Konservative eine klare Ansage: Großbritannien will nicht nur die EU, sondern auch den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen. Für die EU ein neuer Schock: Ein so harter Bruch, wie soll das gehen?
Für die bleibenden 27 EU-Länder war Mays programmatische Rede im Lancaster House der Wendepunkt. Sie verabschiedeten sich innerlich von der Illusion, Großbritannien könnte irgendwie mit einem Fuß in der Gemeinschaft bleiben. In den vergangenen Tagen keimte zwar bei manchen neue Hoffnung. "Die Tür in Europa ist immer offen", sagte nicht nur Bundesaußenminister Sigmar Gabriel. Aber Experten sehen nicht, dass es sich die Briten anders überlegen. Im Wahlkampf stellten sich beide großen Parteien hinter den Brexit, auch Oppositionsführer Jeremy Corbyn ist für den Austritt aus dem Binnenmarkt. "Brexit heißt wirklich Brexit", meint Andrew Duff vom European Policy Centre.
Somit bleibt es wohl auch bei der strikten Verhandlungslinie der EU. Sie hat die Themen angesagt, die zuerst behandelt werden sollen - und sie will den Ablauf vorgeben: Bevor nicht der Austritt sauber geklärt ist, soll es nichts werden mit neuen Handelsbeziehungen. Der Ton war zuletzt kühl. "Unsere Aufgabe ist es, unsere Interessen als EU zu schützen", sagt der Präsident des Europaparlaments, Antonio Tajani.
In Brüssel hat man es sich gedanklich gemütlich gemacht in der Gewissheit, der Brexit schade den Briten im Zweifel noch mehr als der EU. Und auch in London scheint die Überzeugung zu reifen, dass ein gutes Verhandlungsergebnis unumgänglich ist. Auf beiden Seiten sind die Vorboten des Austritts schon spürbar. "Die psychologischen Effekte sind nicht zu unterschätzen", sagt der Politikwissenschaftler Anand Menon vom King's College London. Die britische Wirtschaft, die vom Brexit-Votum zunächst kaum berührt schien, verlor zu Jahresbeginn an Fahrt und wuchs nur noch um 0,3 Prozent. Das britische Pfund gerät immer wieder unter Druck. Die Briten konsumieren weniger überschwänglich. Wohnungen sind in London nicht mehr ganz so schwer zu bekommen wie vor dem Brexit-Votum.
EU-Bürger verlassen Großbritannien, weniger neue kommen. Die Netto-Einwanderung fiel nach offiziellen Angaben im vorigen Jahr um 84 000 auf 248 000. Schon klagen einzelne Branchen, dass billige Arbeitskräfte aus dem EU-Ausland rar werden. In Deutschland wiederum schnellten die Einbürgerungszahlen in die Höhe: 2016 entschieden sich 2865 Briten für einen deutschen Pass - ein Anstieg um 361 Prozent. Die absolute Zahl ist überschaubar, aber sie zeigt die Sehnsucht nach Sicherheit und klaren Verhältnissen. Wenn alles gutgeht, schaffen es die Unterhändler ab Montag, eine saubere Trennung hinzubekommen, ohne dass Millionen Bürger und Zehntausende Unternehmen unter chaotischen Folgen zu leiden haben, ohne dass Konjunkturzahlen einbrechen und Hunderttausende Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Das wäre wohl das günstigste Ergebnis, bevor Großbritannien am 30. März 2019 endgültig geht.Extra: EU-BÜRGER AUF DER INSEL, BRITEN IN DER EU


Die Zahlen der EU-Bürger in Großbritannien und der Briten in den übrigen 27 EU-Staaten gehen bisweilen auseinander, weil die Datenlage löchrig ist. So spricht die britische Regierung in ihrem Weißbuch zum Brexit von 2,8 Millionen EU-Bürgern im Vereinigten Königreich und von schätzungsweise einer Million britischen Staatsbürgern auf dem Kontinent. Die europäische Statistikbehörde Eurostat weist dagegen für 2016 rund 3,2 Millionen EU-Bürger in Großbritannien und weniger als 900 000 Briten in der EU aus. Letztere Daten seien aber unvollständig, warnt die Behörde. Geschätzt wird die Zahl der Briten in der EU auf bis zu 1,2 Millionen.

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