Der Wahlkampf und die Gerechtigkeit

Berlin · Treffen SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz und die nordrhein-westfälische SPD-Regierungschefin Hannelore Kraft einen Nerv, wenn sie im Wahlkampf voll auf das Thema Gerechtigkeit setzen? Die Gegenargumente werden lauter.


Berlin (dpa) Unterschiedlicher könnten die Einschätzungen kaum sein. "Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut wie im Augenblick", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor einiger Zeit im Bundestag. SPD-Herausforderer Martin Schulz meint: "Millionen von Menschen fühlen, dass es in diesem Staat nicht gerecht zugeht", wie er in einem Interview sagte. Auch NRW-Regierungschefin Hannelore Kraft setzt zur Wahl im bevölkerungsreichsten Bundesland in drei Wochen zentral auf mehr Gerechtigkeit. Doch ob es wirklich so ungerecht zugeht hierzulande, ist umstritten.
Gewerkschaften und Sozialverbände jubeln über den SPD-Kurs. "Im Lauf des letzten Jahrzehnts ist für Millionen von Menschen die Unsicherheit zurückgekehrt - in Gestalt von Minijobs, von befristeten Arbeitsverhältnissen, von schlecht bezahlter Leiharbeit, von Scheinselbstständigkeit, Niedrig- und Armutslöhnen", sagt etwa Verdi-Chef Frank Bsirske. Wirtschaftsverbände und Arbeitgeber halten dagegen. "Die Gerechtigkeitsproblematik ist angesichts der geringen Arbeitslosenquote in unserem Land am niedrigsten im Verhältnis zu den anderen europäischen Ländern", sagt Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer. Wer hat recht?
Sicher ist: Das Vermögen in Deutschland ist nicht sehr gleichmäßig verteilt. Laut Armuts- und Reichtumsbericht der Regierung hat das eine Prozent der Bevölkerung mit dem größten Vermögen bis zu 26 Prozent des Gesamtvermögens. Die einkommensreichsten zehn Prozent der Haushalte verfügen über mehr als 35 Prozent des Vermögens. Während die obersten 60 Prozent der Beschäftigten seit Mitte der 1990er Jahre ihren Bruttolohn im Schnitt steigern konnten, ging er bei den unteren 40 Prozent real nach unten. Bei den Einkommensunterschieden liegt Deutschland im OECD-Vergleich im Mittelfeld der Industrienationen.
Beim Aufbau von Vermögen spielen Erbschaften und Schenkungen eine zentrale Rolle, aber auch das Unternehmertum. Das Volumen von Erbschaften und Vermächtnissen lag 2014 bei fast 40 Milliarden Euro, 2007 hatte es noch bei nur knapp 22 Milliarden gelegen. Schenkungen stiegen von fast 13 Milliarden auf über 70 Milliarden Euro.
Doch die Beschäftigungslage in Deutschland ist gut. Das ist ein Pfund, mit dem die Union wuchert, wenn sie Schulz parieren will.
Finanzstaatssekretär Jens Spahn (CDU) warf dem SPD-Hoffnungsträger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kürzlich "Sozialromantik pur" vor. Die Politik solle lieber für mehr Wachstum sorgen und weiter mehr Menschen in Jobs bringen. Schon heute gelte: "Nie ging es dem Land besser."
Tatsächlich lag die Zahl der Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt 2016 mit 2,7 Millionen auf dem niedrigsten Stand seit einem Vierteljahrhundert. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen sank von 1,76 Millionen 2005 auf zuletzt unter eine Million. Die Agenda 2010, deren Fehler Schulz korrigieren will, hat laut Ökonomen keinen geringen Anteil an der guten Lage. Der Autor und Philosoph Christian Schüle warf der Schulz-SPD im Deutschlandradio Kultur deshalb vor, eine rückwärtige Alternative zu Merkel zu bieten. Schulz appelliere an Abstiegsängste, die es in einer prosperierenden Leistungsgesellschaft "naturgemäß" gebe.
Doch haben solche Ängste keinen realen Kern? Arbeitslose sind Härten ausgesetzt. Sie stehen unter Druck, auch unliebsame Jobs anzunehmen, um nicht in Hartz IV abzurutschen. Und Armutsgefährdung ist in Deutschland beileibe kein Randphänomen. Oft sind die Jüngeren betroffen, nämlich 19 Prozent der 18- bis 34-Jährigen. Zwei Millionen Kinder sind armutsgefährdet, weil kein Elternteil erwerbstätig ist oder ein Alleinverdiener nur in Teilzeit arbeitet. Alleinerziehende, Arbeitslose, Ausländer, Senioren und Kinderreiche sind besonders häufig von Armut betroffen. 15,7 Prozent der Menschen im Land droht laut Statistischem Bundesamt Armut. Sie haben ein Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens, Stand 2015. Zehn Jahre zuvor lag die Quote noch bei 14,7 Prozent.
Millionen Menschen drohen also abgehängt zu werden oder sind es bereits. Doch diese soziale Kehrseite des Wohlstands muss nicht für Schulz sprechen. So werfen Opposition und auch Sozialpolitiker der Union dem SPD-Mann vor, bisher gar nichts Wirkungsvolles für die wirklich Armen im Köcher zu haben. Seine Pläne etwa für längeres Arbeitslosengeld zielten mehr auf Facharbeiter und andere gar nicht so schlecht Gestellte. So werden die Konturen im Wahlkampf um Gerechtigkeit immer klarer - offen ist die Wirkung auf die Wähler.

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